Der Ring
„Mama, Mama!“, das Mädchen stürmte herein.
„Ja, was ist denn?“ Die Stimme der Mutter klang etwas unwirsch, war sie doch gerade inmitten der ihr eher ungeliebten Hausarbeiten.
„Mama, sieh her, ich habe etwas gefunden.“
„Ehrlich? Doch nicht etwa in deinem Zimmer? Bei dem Chaos, welches dort gerade herrscht? Ich staune.“ Die Mutter sah auf.
„Nein, doch nicht in meinem Zimmer.“, Judith, so hieß das Mädchen, sah kurz betroffen zu Boden. Oh je, die Mutter hatte bereits entdeckt, dass sie nicht aufgeräumt hatte.
„Nun, dies hätte mich jetzt auch überrascht", fuhr die Mutter fort; „Was hast du denn gefunden?“
„Einen Ring. Er lag draußen am Fluss.“
„Einen Ring?“ Sofort prüfte die Mutter ihre eigene Hand. Eben war sie selbst noch am Fluss gewesen. Sehr erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass sie ihren Ring noch trug.
Judith nahm die Reaktion der Mutter zu Kenntnis: „Was ist denn Mama? Nein, es ist nicht dein Ring. Dieser hier sieht viel älter aus als deiner. Er ist nicht mehr so schön.“
„Ah, und dennoch kann es sein, dass du einen Schatz gefunden hast. Etwas sehr Bedeutsames.“
„Hmm“, Judith betrachtete ihren Fund: „Nun ja, ich weiß nicht.“ nachdenklich sah sie zur Mutter auf: „Einen Schatz?, also so besonders wie ein Schatz sieht er nicht aus.“
Sie ließ den Ring durch ihre Finger gleiten: „Oh weh, sieh mal Mama, da hat sogar schon jemand irgendetwas hineingekratzt.“ Sie wies auf die Innenfläche des Ringes: „Na, da ist der sicher nicht mehr so viel wert. Dazu die Schrammen und Kratzer, davon hat er auch schon gaaaanz viele.“
Die Mutter sah auf: „Jetzt glaube ich erst recht, dass du etwas unglaublich Wertvolles gefunden hast. Darf ich den Ring einmal sehen?“ Frau Jos hielt ihrer Tochter die geöffnete Hand entgegen.
„Na gut, nimm ruhig. Kannst ihn auch behalten. Aber nur wenn ich ihn ab und zu als Schmuck zum Spielen wiederbekomme.“ Das Mädchen sah ihre Mutter auffordernd an.
„Judith, verzeihst du mir, wenn ich dir dies überhaupt erst zusagen könnte, nachdem ich den Ring betrachtet habe?“
„Du lehnst mir doch sonst so etwas nicht ab. Was ist denn nur los? - Nun ja, hier hast du ihn.“ Judith reichte ihrer Mutter, wenn auch mit leicht gekränktem Blick den Ring. Diese nahm den Ring behutsam entgegen, legte ihn in ihre Handfläche und betrachtete ihn. Er sah schon etwas mitgenommen aus. Wies tatsächlich Spuren, Kratzer auf. Doch hatte er dadurch seine Schönheit, seinen wahren Wert verloren?
Tatsächlich fand sich etwas in den Ring graviert. Die Mutter stand auf und ging zum Fenster, um im Licht der hereinscheinenden Sonne die Inschrift zu entziffern.
„Hast du etwas entdeckt, Mama?“, Judith trat neben ihre Mutter und beobachtete sie aufmerksam.
„Oh ja“, sprach die Mutter, „oh ja“, sie unterbrach kurz, sprach dann leise weiter: „Ich weiß jetzt, dass du einen unermesslichen Schatz gefunden hast. Für mindestens einen, sicherlich sogar zwei Menschen so unendlich wertvoll ...“
„Was du immer so sagst“; Judith atmete durch: „Es ist doch nur ein Ring. Und sieh ihn dir an. - Ach was, ich bin sicher, dass dieser Mensch sich längst einen neuen, vermutlich sogar schöneren gekauft, oder geschenkt bekommen hat.“
Frau Jos legte den Ring vorsichtig vor der Kerze auf der Fensterbank ab, neigte sich zu ihrer Tochter und hob sie hoch: „Komm mal her, setz dich zu mir.“
Die Mutter setzte sich, ihre Tochter auf dem Schoß, in den Schaukelstuhl neben dem Fenster. Das Schaukeln des Stuhls, die Nähe ihrer Mutter genießend bemerkte Judith, dass ihre Mutter liebevoll über den Ring an deren Hand strich.
„Werde ich später auch so einen Ring tragen, Mama?“
„Ich wünsche es dir so sehr, meine Kleine. Von ganzem Herzen. Vor allem, dass du diesen dann in tiefer Liebe, mit gleichem Stolz und Freude trägst wie ich diesen hier.“
„Das verstehe ich nicht.“ sie sah zu ihrer Mutter auf. Für einen Moment war es still, dann fragte sie ihre Mutter: „Hast du deinen Ring lieb? Du streichelst ihn die ganze Zeit, so wie du mich immer streichelst. Immer so, dass ich spüre, wie lieb du mich hast.“
Die Mutter lächelte, strich ihrer Tochter über das Haar: „In Gedanken habe ich das Gegenstück, das zugehörige Herz, Seelen gestreichelt. Dieser Ring ist mein besonderer und wertvollster Schatz. Natürlich abgesehen von dir. Du bist mir auch Schatz.“
„Oh weh. So viele Schätze heute“, Judith verdrehte spielerisch die Augen: „Mama, warum tragen Menschen denn solche Ringe? Solche Schatzringe?“
„Aus Liebe. Als Zeichen unvergänglicher Liebe.“
„Kann man da nicht auch Ohrringe tragen? Ich hätte so gerne Schatzohrringe, mit langen Blättern dran.“
Die Mutter lachte.
Judith fragte weiter: „Warum trägt man denn Ringe als Zeichen, dass man sich lieb hat?“
„Ich erzähle dir doch immer wieder vom lieben Gott.“
„Oh ja, wir beten und sprechen ja immer zu ihm.“ Judith winkte nach oben: „Hallo lieber Gott! Ich bin so froh, dass du immer auf uns aufpasst. Und, naja, dass du nicht schimpfst, weil mein Zimmer nicht aufgeräumt ist, oder ich Pudding genascht …, uuuppss!“
Die Mutter erzählte weiter: „Also, wie du ja bereits weißt, der liebe Gott hat uns Menschen unendlich lieb. Diese Liebe währt schon seit je her, ewig, und sie wird auf ewig bestehen. Sie kennt keinen Anfang und kein Ende ...“
„... Aber alles hat doch einen Anfang und hört irgendwann auf ...“, unterbrach Judith ihre Mutter.
„Bist du sicher?“, die Mutter wies auf den Ring: „Sieh einmal genau hin.“
Judith strich staunend über den Ring an Mutters Finger: „Der fängt ja gar nicht an, und ...“, sie fuhr mit ihrem kleinen Finger noch einmal über den Ring: „... er hört nirgends auf. Er geht immer weiter, noch weiter und ...“
„Ja, genauso ist es. Und daher wählte man den Ring als Symbol für unendliche Liebe, zumal der unendlichen Liebe Gottes zu uns Menschen“, sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf deren Hand.
„Dann ist Gottes Liebe rund?“, Judith bildete mit ihren Händen einen Kreis.
„Ja, wenn du es so siehst. Sie ist eben unendlich, ewig, kennt keine Kanten, keine Grenzen, wo Sorgen, Ängste, Böses und dergleichen hängen bleiben könnten. Sie hört eben nirgendwo auf.“
„Sieh mal Mama, ich kann durch den Kreis hindurchsehen“, Judith wies mit dem Kopf auf ihre zum Kreis geformten Hände.
„Und ich könnte nun mein Herz hineinlegen und es wäre in deinen Händen beschützt. So wie dieser Ring ...“
Judith unterbrach: „Mama, darum trägt Dad auch einen, sogar gleichen Ring wie du? Ihr wollt also niemals mit dem lieb haben aufhören?“ Judith knuddelte sich fest an ihre Mama: „Schöööön. Ich hab ihn nämlich auch doll lieb, fast so lieb wie dich und den lieben Gott.“ Sie sah verträumt zur Decke. Dann sprach sie weiter: “Oh! Jetzt verstehe ich, warum man keine Schatz-Ohrringe trägt. Sie wären ja nicht immer rund, irgendwo fangen sie immer an …, und sie sähen bei Männern ja auch noch ganz schön doof aus.“
Frau Jos musste lachen.
„Mama, jetzt weiß ich, dass ihr euch ganz, ganz lieb habt.“
„Ja, ich könnte meine Liebe zu ihm mit Worten kaum so beschreiben wie durch das Tragen dieses, uns verbindenden Ringes. Zudem, er tröstet uns beide über die Stunden hinweg, in welchen wir uns nicht sehen. Ich spüre, fühle …“, sie schwärmte weiter: „Es ist wie göttliche Magie, denn durch diesen Ring wissen wir umeinander, werden uns immer wieder einander bewusst. Halten fest …“
„Uiiih, der Ring kann ja dann auch zaubern.“
Einen Moment wurde es still im Zimmer. Nur das Ticken der Uhr war zu hören. Von draußen ertönten die Stimmen spielender Kinder. Judith´s Finger glitten fast andächtig über den Ring, welchen ihre Mutter trug.
„Mama!“ erklang plötzlich Judiths Stimme erschrocken.
„Ja?“
„Mama, dein Ring hat … Mama, da! Er hat auch einen Schrammen.“ Judith wies auf einen kaum merklichen Kratzer.
„Oh je, du hast recht. Diesen habe ich noch gar nicht bemerkt.“
„Aber Mama, warum hast du denn da nicht aufgepasst? Auf euren Schatzring, nicht aufgepasst? Oh weh, was wird nur Dad dazu sagen? Kann der Ring denn dann noch zwischen euch zaubern? Zaubert er nun etwa weniger?“ Judith sah ihre Mutter besorgt an.
Sie nannte den Freund ihrer Mutter schon längst Dad, obgleich er nicht ihr leiblicher Vater war. Den leiblichen Vater hatte sie nie kennengelernt, er hatte sie einfach im Stich gelassen, als sie noch ein Baby war.
„Ach Judith, meine Judith. Wie soll ich dir dies nur erklären? Weißt du, ganz gleich wie sehr wir etwas zu behüten versuchen, wie sehr wir auch aufpassen mögen; die Zeit, der Alltag, das Leben, manche Sorge, alles hinterlässt seine Spuren. Überall auf dieser Welt, irgendwann. Alles und wir alle tragen irgendwann, meist eher unbemerkt, Schrammen, Kratzer, Verletzungen davon. Ja, sogar Menschen die sich unendlich lieb haben geraten in Situationen, in welchen sie scheinbar verletzten.“
Judith, nach wie vor dicht an ihre Mutter geschmiegt, hörte aufmerksam zu.
„Weißt du Judith. In solchen Situationen halte ich es wie dieser Ring. Mag er äußerlich auch ab und an Stöße, - durch was auch immer Spuren bekommen, mag er äußerlich verblassen, so bleibt er innerlich doch gefestigt, glänzend wie am ersten Tag. Er verliert letztlich weder seinen Zauber, keinesfalls seine Magie schon gar nicht die unendliche Liebe, welche er verkörpert. Denn all diese Werte kommen aus seinem, unserem tiefsten Inneren heraus. Für unser Auge unsichtbar, für unser Herz und unsere Seele Alles. … Unbeschreiblicher Halt.“
„Ist das, wie mit dem lieben Gott?“ Judith wirkte fast schon aufgeregt: „Ich kann ihn nicht sehen, und doch weiß ich; er ist da. Fühle mich sicher, selbst wenn du ...“, sie stupste ihrer Mutter bestärkend auf den Arm: „... einmal nicht bei mir sein kannst. Ich fühle mich auch dann nicht ganz alleine“, Sie ließ bei diesen Worten das kleine silberne Kreuz ihrer Halskette, welche ihre Mama ihr zur Taufe geschenkt hatte, durch ihre Finger gleiten.
„Ja, so kannst du es dir durchaus vorstellen“, die Mutter lächelte.
„Oh, das ist gut, denn ich war nicht sicher, ob ich schon alles verstanden habe, was du mir gesagt hast“, Judith sah ihre Mutter glücklich an.
Frau Jos strich ihrem Mädchen wiederholt durchs Haar. Dann schob sie ganz langsam ihren Ringfinger unter die Hand ihrer Tochter so, dass ihr Ring das kleine, mit Puddingspuren gezeichnete Kreuz deren Halskette berührte. Dann formte sie die Hand ihrer Tochter über beides und legte ihre eigene rechte Hand darüber: „Ja Judith, so kannst du es dir vorstellen.“
So saßen Mutter und Tochter einige Minuten schweigend da. Beide gingen ihren Gedanken nach.
Plötzlich zuckte Judith zusammen: „Mama, was machen wir denn nun mit dem Ring?“ Sie wies auf die Fensterbank: „Mama, vielleicht ist da jemand nun ganz traurig, weil es nicht zaubert?“ Judith sprang auf und lief zur Fensterbank: „Mama, Mama, der Ring ist so wunderschön.“ Sie kam mit dem Ring zur Mutter, hob ihn ihr entgegen: „Sieh einmal her, diese kleinen Kratzer darauf sehen aus wie Sterne. Hui! Ein ganzer Sternenhimmel. Mama und hier, dies sieht aus wie ein Mond oder ein Herz, oder …“, sie stockte kurz: „Mama, ich glaube, ich fühle den Ring glänzen.“
Judith sah ihre Mutter mit großen Augen an. Diese nickte:
„Ich glaube, ich habe eine Idee. Ich weiß, was wir machen. Komm mit.“
Zunächst durfte Judith den Ring vorsichtig in ein weiches Tuch legen, welches sie anschließend vorsichtig faltete. Dann nahm Frau Jos ihre Tochter bei der Hand.
Auf dem Weg zur Kirche sagte Judith plötzlich: „Mama, wir haben uns doch auch ganz für immer lieb. Kaufst du uns auch einen Ring? Einen ganz Kleinen? Er muss ja gar nicht teuer sein. Er darf auch zerkratzt sein, aber innen drin, da muss er ...“ Sie sah ihre Mutter bittend an.
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Es war Abend geworden. Nach dem gemeinsamen Abendgebet hatte Frau Jos ihrer Tochter noch den abschließenden Gutenachtkuss gegeben, sie zärtlich umarmt.
Judith hatte dem lieben Gott auch heute wieder von ihrem Tag berichtet. Heute besonders ausführlich natürlich von dem Schatzring, welcher, wie sie voller Überzeugung zu berichten wusste, nun glücklicherweise wieder zauberte.
Bevor sie einschlief, dachte sie noch lange nach und spielte dabei verträumt an dem kleinen Ring herum, welcher seit diesem Tag den kleinen Finger ihrer linken Hand zierte.